Text und Bilder von Michael und Stefan Zistler, Le Schlenk, Vlasta Lasovská, Tobias Barth und David Tempel.
Nein, die Fahrt ist ganz bestimmt nicht kurz! Für die 1.800 km lange Strecke mit dem Hänger von Nagold nach Jesenik und wieder zurück sitzt man gut 20 Stunden im Auto. Und wenn’s gut läuft und der Wellengott einem gut gesonnen ist, kommt man in der Woche mit 20 Flugstunden auf ein Verhältnis 1:1 Autofahren zu Segelfliegen.
Aber auf das kommt’s doch wirklich nicht an! Wenn wir dereinst vors Angesicht unseres Schöpfers treten müssen, will der ganz bestimmt nicht wissen, wie viele Kilometer wir in unserem Leben mit dem Auto zurückgelegt haben; bestimmt wird er sich für Wichtigeres interessieren und uns vielleicht fragen: „Ond, wo kommsch her ond was hosch erlebt en deim Leba?“ Darauf freue ich mich schon im Diesseits sehr, wenn ich ihm dann mit glänzenden Augen antworten werde: „I bin aus Nagold em Schwarzwald ond han mer mit meim Jonga en dr Welle en Tschechien uff 6.000 Meter dr Arsch abgfrora. Ond daß der’s glei weisch: saumäßg schee isch’s gwea!“
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In manchen Lebensbereichen verbietet sich aus meiner Sicht die rein wirtschaftliche Betrachtungsweise im Sinne von „Return on Investment“. Das Segelfliegen mit seinem extrem hohen zeitlichen Aufwand gehört wahrscheinlich auch dazu, aber Hand aufs Herz: wie oft schon wurden wir dadurch schon bereichert mit erlebnisreichen Flügen, sportlichen Erfolgen, faszinierenden Eindrücken und atemberaubenden Aussichten? Auch deshalb gehört das Wellenfliegen im Altvatergebirge im tschechischen Jesenik für Stefan und mich seit einigen Jahren zum festen Bestandteil unserer Jahresplanung und wir wollen es nicht mehr missen!
Natürlich hat sich die Anreise auch in diesem Jahr gezogen und sind wir nicht rechtzeitig losgekommen, aber am Ende haben wir nach zehnstündiger Fahrt noch ein paar tschechische Segelflieger und Schlepppiloten in dem Clubheim „Klubovna“ angetroffen und ein kaltes Bier mit ihnen getrunken. Wir sind dann aber schnell im reservierten Zweibettzimmer in die Heia versunken und haben einen langen gerechten Schlaf der Entschlossenen genossen.
Unsere diesjährigen Flüge waren erneut sehr unterschiedlich und ich möchte der Reihe nach etwas detaillierter auf sie eingehen. Am Sonntag starteten wir nach gemütlichem Frühstück und dem Aufbau unseres DuoDiscus „EG“ von der FTAG Esslingen gegen halb eins hinter der Pawnee zu unserem Akklimatisierungsflug. Der lief sehr unspektakulär und Martin würde es als „Pfahlsitzen“ bezeichnen: gemeint ist das mehr oder weniger ortsfeste Steigen im Lee der Abhänge ohne signifikanten Streckengewinn. Die Wellen am Praded und Serak waren nicht sehr stark ausgeprägt, gingen aber bis gut 3.000 Meter Höhe und wir genossen die Aussicht auf die Staubewölkung im Südwesten im zunehmend farbenintensiven Gegenlicht der Sonne. Für den Anfang war das aus unserer Sicht genau das Richtige!
Am Montag flaute der Wind dann ab und es war laut Vlasta in deren Briefingsinformationen „Sonnenbaden“ angesagt. Tatsächlich haben die meisten Piloten das dann auch in die Tat umgesetzt: noch nie sah man auf dem Flugplatz Mikulovice LKMI im November bei fast 20 Grad mehr Piloten in T-Shirt, kurzer Hose, barfuß laufend und sich gegenseitig nach Sonnencreme fragend Siesta machen. Ob das auch die spürbaren Auswirkungen des vielzitierten Klimawandels sind? Wir konnten es meinen, aber auch das hat noch ganz andere Schattenseiten: Vlasta ist überzeugt, daß unsere geliebten Schwerewellen die Kälte bevorzugen und die Wärme so wenig vertragen wie der Teufel das Weihwasser.
„Wellenalarm“ meldeten die tschechischen Vorhersagetools dann für den Dienstag unisono. Dunkelrot waren in der Grafik die parallel verlaufenden Wellenautobahnen markiert auf der gesamten Rennstrecke Richtung Riesengebirge nach Nordwesten hoch. Nach kurzer Diskussion war Stefan einverstanden, den Wecker auf 5:00 Uhr zu stellen bei diesen verlockenden Aussichten, um den Tag möglichst lange fliegerisch auskosten zu können. Tatsächlich starteten wir 06:40 loc in einen erneut faszinierenden Sonnenaufgang. Das Farbenspiel der am Horizont aufgehenden Sonne und die jungfräuliche Morgenstimmung eines solchen Tages sind mit Worten nicht zu beschreiben, man muss es wirklich erleben! Selbst Fotos und Videos können die Atmosphäre und die Eindrücke eines solchen Morgens nur unzureichend wiedergeben. Das Aufrüsten erfolgt mit der Stirnlampe noch im Dunkeln, der aufgefrischte Südwestwind weckt alle Lebensgeister, treibt die letzte Müdigkeit aus den Knochen und weckt vor allem eine rießengroße Vorfreude, die einen dann in spannender Erwartung des baldigen Fluges zur Tat schreiten lässt. Kurz nach 6 stand unser Duo am anderen Ende der Bahn im Startgrid und wir hatten sogar noch Zeit für einen kurzen Kaffee samt Brötchen.
In der Vorbereitung aller Notwendigkeiten haben wir mittlerweile schon etwas mehr Routine und die Utensilien wie GoPro, Handy, Powerbank, Sauerstoff, Lunchpakete, Handschuhe, Boots, Karten, Sonnenbrille und Mütze finden schnell ihren Platz. Stefan kümmert sich vorbildlich um den Flieger, für den er gegenüber seinem Verein verantwortlich ist. Auch der ausklappbare Turbomotor kriegt dabei seine Aufmerksamkeit und wird so gut es geht von ihm gecheckt; unsere Erfahrungen speziell des letzten Jahres mit der Außenlandung lehren uns: man weiß ja nie…..
Wir starteten kurz nach halb sieben und erhofften uns einen sehr langen und entspannten Tag. Wie gesagt, die optischen Eindrücke in die aufgehende Sonne waren einmal mehr sensationell. Ausgeklinkt haben wir standardmässig und in guter Höhe in der Primärwelle im Lee des Praded (Altvater). Aber wir konnten machen, was wir wollten, alle theoretischen Kenntnisse der Leewellentheorien bemühen und den Wellengott um seinen Rat bitten, allein es nützte rein gar nichts! Höhenmeter für Höhenmeter mussten wir die Rechnung der Schwerkraft bezahlen und wurden einmal mehr beim Segelfliegen vom Unterschied zwischen Vorhersage und tatsächlichen Bedingungen auf den Boden der meteorologischen Realität heruntergeholt. Wie im richtigen Leben kümmert sich das Wetter einen feuchten Dreck darum, was irgendwelche Modelle prognostiziert haben oder irgendwelche Piloten sich an Wunschdenken in ihre Hirner gespeichert haben. Da wird halt mal kurz an der einen oder anderen Stellschraube gedreht – in diesem Fall war es wohl ein etwas schwacher und auf nördliche Richtungen drehender Wind. Und schon zeigte uns die Welle einen Stinkefinger und wir wussten bald: Satz mit X – das war wohl nix!
Aber alle scheinbar miesen Ereignisse haben am Ende immer auch ihre guten Seiten: nach langer Ausfallzeit konnte Stefan seinen „Captain Solo“ zum Einsatz bringen und er sprang sofort an und rattelte uns zuverlässig 300 Höhenmeter weiter nach oben. Am Ende landeten wir quasi durch einen Absaufer nach knapp 2 Stunden wieder in LKMI und waren vor allem wegen der optischen Eindrücke trotzdem mehr als dankbar und zufrieden für das Erlebte.
Generell waren die Luftmassen dieses Jahr etwas trockener als in den letzten Jahren. Natürlich mit dem dadurch bedingten großen Vorteil, dass es um einen herum nicht so schnell kondensiert und vor allem unten nicht schnell zumacht und einen zu ständiger Aufmerksamkeit für einen gegebenenfalls erforderlichen Abstieg zwingt. Aber die Rotorwolken fehlen halt auch als Wegweiser für den Einstieg oder das Auffinden der tragenden Linien beim Wellen-Streckenfliegen. Und warum wir das Wellensteigen heuer oftmals so nahe am Hindernis angetroffen haben, bleibt eine Denksportaufgabe für die theoretische Weiterbildung im kommenden Winter.
Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt – das genaue Gegenteil lieferte uns dann gleich der Folgetag: für den Mittwoch war die Vorhersage nicht sehr berauschend und siehe da: am Ende hatten wir mit über 7 Stunden unseren längsten Flug in diesemJahr, konnten dabei auf knapp 6.000 Meter steigen und die Höhe im nahenden Sonnenuntergang in ein wenig Strecke umsetzen; 400 km standen dann am Abend auf dem Kilometerzähler im XCSoar und im Weglide. Erhofft hatten wir uns im Verlauf des Fluges den erstmaligen Besuch der 120km entfernten Schneekoppe im Riesengebirge. Aber der Vorflug zum Eulengebirge hat uns einen wahrhaft rasanten Absturz beschert: in nur knapp 10 Minuten haben wir annähernd 2.500 Höhenmeter verloren und sind einigermaßen verdutzt, schiergar reumütig über unsere Entschossenheit wieder einige Stockwerke tiefer am heimischen Serak in die Welle eingestiegen. Es hat nicht sollen sein, am Ende haben wir den Grund für den rekordverdächtigen Sinkflug selbst erfahren: wir sind einfach ein Stück zu weit leeseitig vorgeflogen und sind dabei einfach eiskalt abgeduscht worden. Das Vergleichen unseres Fluges mit dem von Stefan und Felix offenbarte einen weiteren Grund fürs Scheitern des Schneekoppenversuches: beeindruckt von dem wahnsinnigen Saufen haben wir quasi den Schwanz eingezogen und sind umgedreht – nur 5 km weiter haben die Kameraden dann den Einstieg im Eulengebirge gefunden und konnten bis an die Schneekoppe vorfliegen. Auch diesen Flug wollen wir bei Gelegenheit nochmals nachbriefen und uns unsere Gedanken dazu machen. Auf den Motor wollen wir wegen der Temperaturen nicht setzen, aber die Option einer Landung in Jelenia Gora kann man als Plan B schon mal ins Auge fassen und sich damit beschäftigen. Schaun mer mal….
Ende gut, alles gut! Am Donnerstag durften wir nochmals 4,5 Stunden in relativ ruhiger und unspektakulärer Luftmasse genießen. Spannend war lediglich der Einstieg nach dem Ausklinken: eigentlich waren wir uns sehr sicher und deuteten die Ruhe des laminaren Steigens nach Passieren des Rotors als guten Ort für den Welleneinstieg. Schlepppilot Hans war aber der Meinung, er wäre noch etwas Richtung Hang weitergeflogen. Sein Wort in Gottes Ohr: in relativ niedriger Flughöhe kämpften wir uns unter Hangkante mit dem ebenfalls tief gekommenen Tobi in seiner Mosquito gemeinsam am Roter mühsam hoch und durften dabei dann auch wieder die Kehrseite der Medaille erleben: durch das Tiefkommen unter die Staubewölkung erlebt man das Steigen an dieser klaren Referenz viel deutlicher und wenn dann die laminare Strömung erreicht ist, gleicht es immer wieder einem Wunder, wie man fast wie von Geisterhand in unendlicher Ruhe und Stille mit 3-4 Meter pro Sekunde emporgetragen wird und die Wolken langsam unter einem verschwinden. Das hat schon was Magisches und man könnte Bücher darüber schreiben, wie sich das anfühlt.
Apropos Tobi! Für diesen Kerl möchte ich hier gerne etwas Werbung machen. Er heißt mit richtigem Namen Tobias Barth und ist im richtigen Leben Luft- und Raumfahrtingenieur. Laut eigener Auskunft auf seiner Webseite www.aviation-calendar.com hat er 2015 seine Passion für die Luftfotografie entdeckt und aus eigenem Erleben nach zwei himmlischen Rendezvous mit ihm möchte ich behaupten: er ist ein wahrer Meister seines Fotografen-Fachs, betreibt dieses Metier mit allergrößter Kompetenz, Disziplin und unglaublicher Kreativität und Engagement. Vor allem ist er aber einer von uns, ein leidenschaftlicher Segelflieger durch und durch! Die fotografischen Ergebnisse sind einmalig und erinnern mich an den unvergessenen Claus Dieter Zink. Die Kosten für Flugzeug, F-Schlepps oder Fotoflugzeuge sind auch für den Tobi enorm und da kommt bestimmt schon ein ordentliches Budget zusammen. Ich würde mich sehr freuen, wenn er aus dem Kreis meiner Freude und Bekannten etwas Unterstützung erfährt: durch den Kauf seiner einmalig schönen Segelflugkalender oder vielleicht auch mal einen Auftrag für ein professionelles air-to-air-Fotoshooting.
Informationen, Galerien, Angebote und Kontaktmöglichkeiten:
Fliegerisch war es für Stefan und mich auch in diesem Jahr wieder faszinierend, begeisternd, lehrreich und einfach wunderschön. Unser Vereinskamerad Michael Buck war erstmals mit von der Partie mit seinem eigenen Flieger und bestätigte uneingeschränkt, was ich ihm bei unserem kurzen Briefing mehrfach vermittelt habe: man kommt oft einfach aus dem Staunen nicht mehr heraus!
Die Organisation des Wavecamps möchte ich an dieser Stelle aber auch nochmals kurz hervorheben. Unter der Gesamtverantwortung ihrer Fluglehrerin Vlasta Lasovska mit Beteiligung vor allem von David Tepel und Martin Pohl auf deutscher Seite engagieren sich viele fleißige Helfer für unser Wohlergehen vor Ort. Die Briefings und täglichen Informationen haben allesamt Hand und Fuß, die großzügig dimensionierten Lufträume bilden in Form von TSA’s eine hervorragende Spielwiese, die in Europa einmalig sein dürfte! Wenn gewünscht stehen die Schlepper mit dem ersten Tageslicht für uns zur Verfügung und man hat das Gefühl: auch das sind wirklich alles Gleichgesinnte! Vielen Dank auch nochmals von unserer Seite für dieses enorme Maß an ehrenamtlichem und uneigennützigem Engagement aller Beteiligten – Prädikat: besonders wertvoll! Alle Informationen zum Wavecamp in LKMI gibt es kompakt unter www.jeswave.cz.
Geteilte Freude ist immer doppelte Freude! Und das Wavecamp wäre nichts ohne das Fliegervolk, das sich hier jährlich aus vielen Himmelsrichtungen zusammenfindet. Es ist einfach wohltuend, mit solchen Leuten gemeinsam Zeit zu verbringen – am Boden wie in der Luft! Man kennt sich mit jedem Tag und jedem Jahr besser, gönnt sich das gemeinsame Abenteuer, hilft sich gegenseitig bei allen Angelegenheiten, teilt Küche und Tisch kameradschaftlich und hat einfach eine gute Zeit zusammen. So soll es sein und bis nächstes Jahr alles Gute an Felix, Stefan, Tobi, Inga, Nils, Volker, Daniel, David, Martin, Max, Hans Peter, Uwe, Uli, Kristian, Martin, Norbert, Gerhard, Herbert, Robert, Andreas, Matthias, Daniel, Hartwin, Jan Frederik, Roman, Lars, Steffen, Josh, Fabian, Nils, Michael, Samuel, Jürg, Dominic, Alexander, Katja sowie alle, deren Namen ich nicht kenne oder vergessen habe. Es war uns eine Freude mit euch zusammen und wir wünschen schöne Weihnachten, gutes neues Jahr, frohe Ostern und happy birthday – aber ganz sicher bis zum nächsten Jahr im Wavecamp 2023!