Wie der Hase vor dem Fuchs
Pfingsten 2014 gehören zu den heissesten überhaupt. Auch was den Strecken-Segelflug in den Alpen betrifft. Allein die Königsdorfer Streckenfüchse fliegen über dieses lange Wochenende mit Temperaturen bis 35° C und Unwettern in Deutschland sechs Tausend-Kilometer-Strecken. Aber auch ab verschiedenen anderen Startorten werden unglaublich schnelle und weite Thermik-Flüge realisiert. Ich selbst mag mich für meinem Pfingst-Montag-Flug nur an eine vergleichbare Wetterlage erinnern: jene mit einem rekordverdächtig schnellen Flug unmittelbar vor einem Fronten-Gewitter in Südfrankreich – damals verbunden mit Überschwemmung, Böenspitzen von 200 km/h und einer ‚überschlagenen Pégase‘ mit anschliessendem Totalschaden. Noch überhaupt nie habe ich hingegen erlebt, dass man auf der Standard-Strecke durch das Vorarlberg um die Mittagszeit verbreitet Steigwerte von vier Metern pro Sekunde bis an eine Wolkenbasis über 4’000 Meter hinauf findet.
Diese Luftmasse muss explodieren.
Einerseits ist es ein unglaubliches Vergnügen, wenn man die Nase des mit Wasser schwer gefüllten 15-Meter-Rennhobels in einen grossen Aufwind (gefühlte) mehrere hundert Meter aufziehen kann, um sich dann in Ruhe für eine Drehrichtung entscheiden zu können. Wobei im Hintergrund parallel zur abnehmenden Fahrt der Variometer-Ausschlag und -Ton zunimmt. Höchste Segelflieger-Lust! Und natürlich macht es extremen Spass, das rundherum konstant anliegende Steigen mit etwas stärkerer Querlage dann rund um den Thermikkreis auch noch markant zu erhöhen.
Das tröstet problemlos über einen ziemlich schwierigen Start in komplett toter Luftmasse in der Region Schänis, Amden, Toggenburg, Churfirsten hinweg. Der ist mehr als harzig. Schon kurz nach dem Klinken ist ein erster wichtiger Entscheid nötig. Damit ich bestimmt den Voralpsee erreiche, fliege ich nicht über die Südseite der Churfirsten (um wenn möglich an den Walenstadter Chrächen stecken zu bleiben), sondern über die tiefere und flachere Toggenburger Nordseite. Ich gleite vom Abflugpunkt bei Ziegelbrücke kreislos wie durch abgestandenes Wasser bis an den Voralpsee am Ostende des Toggenburgs, wo ich mit Atem-anhalten und konzentriertestem Fliegen endlich ein gaaanz schwaches Aufwindchen bei den Alphütten auf 1’600 Meter ausgraben kann. Dafür kenne ich jetzt das dortige Thermik-System persönlich. Der Aufwind schleicht sich bodennah durch das flache Gelände bergwärts, gespiesen vom kargen Kalkboden und den entsprechend dünn darauf wachsenden Tannen – eine ‚Baumschule‘ eben – und löst dann an den ersten steilen Felskanten und -Höreli ab. In diesen Minuten hätte ich liebend gerne den Wasserhahn geöffnet. Angesichts der vor mir liegenden guten Bedingungen unterlasse ich das aber und kämpfe mich mit künstlicher Verzögerung in meiner fliegenden Sauna mit Temperaturen von 50° Celsius nach oben. Zum Glück habe ich mich nicht wärmer angezogen… Das soll jedoch für diesen Tag das letzte Mal sein, wo ich mich mit schwacher Thermik herumschlage. Den Rest des Fluges überlege ich mir nur noch, wo Vier-Meter-Aufwinde in der grosszügigen Auswahl zu finden sind. ‚Rosinenpickerei‘ sagen dem die ’sympathischen‘ EU-Bürokraten, wenn sie von uns Schweizern reden.
Beidseits der Alpen
Anderseits ist von Beginn an klar, dass diese ungewöhnlich heisse, labile und feuchte Luftmasse förmlich explodieren muss. Ich bin im Verlauf des Fluges aber doch überrascht, wie schnell und wie verbreitet das passiert. Aber bis es soweit ist, reise ich in komfortabelsten Höhen durch das Unterengadin, das Vinschgau, die hohen Skigebiete in Kauner-, Pitz- und Ötztal, um am Timmelsjoch definitiv auf die Südseite zu wechseln. Bei Arbeitshöhen von 4’000 Metern ist das allerdings eine grosszügige Auslegung, da oben fliegt man eigentlich gleichzeitig auf der Süd- und Nordseite der Alpen. Die Luft über den Dolomiten hat bereits ein fortgeschritteneres Reifestadium als jene über dem gletscherbedeckten, thermik-hemmenden Haupt-Alpenkamm. Südlich des Pustertales schauert es schon mittags um halb zwei aus kohlschwarzen Wolken verbreitet zu Boden. Einen Flug durch die Dolomiten streiche ich deshalb frühzeitig aus meiner Menukarte. Aber die Nordseite des Pustertales ist auch nett. Da stehen die Wolken auf Höhen, die ich sonst nur aus Zeitschriften und aus Aufnahmen aus Nordamerika oder Namibia kenne. Darunter eindrehen ist der süchtig-machende Segelflieger-Wahnsinn (siehe oben).
Für heute habe ich mir einen Flug nach Lienz-Nikolsdorf und zurück vorgenommen. Wenn ich das nicht mache, verliere ich mich meistens in zielloser Kreiserei, da, wo gerade das Wetter am nettesten aussieht. Wahre Kunst wäre natürlich, die Wettervorhersagen so einzuschätzen, dass man das gute Wetter mit einer vorgefassten Aufgabe sinnvoll zusammenbringt. Das gelingt heute nicht schlecht, wie sich in den nächsten zwei Stunden zeigt.
10 Kilometer vor der Wende abgebrochen.
Der Flugplatz Lienz ist als Wendeort heute nicht gerade ideal. Er liegt etwas weit südöstlich im Tal draussen, für die über den Lienzer Dolomiten ausleerenden Schauer und die deutlich pampigere Luft und vor allem für mich definitiv zu weit. Wenn ich den letzten Aufwind in der Region Matrei für die Wende und zurück bis oben auskreise, um danach unten hoffentlich wieder (womöglich ziemlich zeitaufwendig) einsteigen zu können, bevor die Schauer da sind, ist das eine etwas knappe Kalkulation für die heutigen Bedingungen. Vor allem sitze ich im schönen Pustertal fest, wenn das Unterfangen schief geht – und morgen sollte ich wieder im Büro sitzen! Also entscheide ich mich tatsächlich zehn Kilometer vor der Wende schon nachmittags um Viertel vor Drei für einen frühzeitigen Übungsabbruch. Kaum eine Viertelstunde später bin ich das erste Mal froh drum.
Schauer-Slalom
Ab der Hälfte des Pustertales schüttet es in der Region der drei Zinnen bereits heftig, die Abdeckungen fliessen bis hinaus ins Pustertal, was die bisher excellente Thermik etwas beeinträchtigt. Allerdings habe ich heute verwöhnterweise mit eineinhalb Metern pro Sekunde Aufwindstärke auch das Gefühl, im Cockpit einzuschlafen. Die Schauerzellen begleiten mich ab jetzt bis ins Unterengadin. Ständig muss ich ihnen ausweichen, davonfliegen, gleichzeitig darauf schauen, so hoch wie möglich zu bleiben, um möglichst viele Optionen offen zu halten, auf die Nord- oder Südseite des Alpenkammes ausweichen zu können – je nachdem, wo man auf Kurs noch durch die Schauerzellen hindurch sieht. Es sieht jetzt aus, als ob jede einzelne Wolke ihre nasse Last abwerfen würde.
Es bleibt aber auf dem Weg durch den Haupt-Alpenkamm immer ein Fensterchen offen, auch wenn ich den Flieger gleich mehrmals mit Graupelschauern ’sandstrahle‘ oder in Regengüssen gründlich wasche, bis mir die Regentropfen durch die Lüftung innen an die Capotscheibe fliegen und dort lange Bänder nach hinten ziehen, bevor sie irgendwann austrocken. Das Profil der ASW-20-B mag Eisnasen oder nasse Flächen gar nicht, da sinkt sie deutlich stärker als sonst. Im Zickzack erreiche ich so das Pitztal, wo ich endlich wieder meine Arbeitshöhe komfortabler gestalten kann. Damit erreiche ich problemlos die Region des oberen Vinschgau, die noch in klarer Sonne liegt. Weiter auf Kurs schauert es aber wieder stärker. Das ganze Inntal bis hinauf nach Schuls, die gesamte Region Arlbergtal, das Montafon, Paznaun usw. sind unsichtbar hinter einer Schauerwand verschwunden. Von Zernez bis Samedan breiten sich Schauerzellen aus, allerdings mit klarer Basis, darunter kann man im Moment noch problemlos durchfliegen.
Aussenrum oder mitten durch?
Jetzt braucht es wieder eine feine Klinge, um sicher nach Hause zu kommen. Eine Variante wäre, die noch saubere Luft über der Südseite des Oberengadins zu nutzen, um den Flug via Julierpass, Tiefencastel, Mittelbünden und später in die Glarner Alpen zu verlängern. Das Risiko, dort aufzulaufen, scheint mir aber erheblich grösser als der Durchflug durch einen sich schliessenden ‚Wolkentunnel‘ am Piz Linard. Die Wettermeldungen der Kameraden im Prättigau helfen, diesen Entscheid zu festigen. Der Durchflug klappt völlig problemlos, ich kann den Flug dann auch noch über die Glarner Alpen, das Riemenstaldental bis hinauf an den Surenenpass verlängern, bevor es auch dort wieder zu regnen beginnt – wenn auch diesmal mit wesentlich mehr entspannenden fliegerischen Ausweichmöglichkeiten ins Mittelland hinaus.
Von meinen nachreisenden Kameraden werden ein paar von den Schauern eingekreist und gelandet. Max Weber und Fritz Tresch stranden in Innsbruck und kommen dort in den Genuss eines EASA-kompatiblen, international konformen Flughafen-Umrandungszaunes mit all seinen Vor- und Nachteilen (es bringt selten jemand ohne ‚Badge‘ etwas hinein und noch weniger hinaus). Roland Hürlimann und Markus Gemperle kommen auch 30 Minuten nach mir noch durch die immer breiter auseinander laufende Schauerwand zwischen Etschtal und dem Karwendel – wie immer sie das auch angestellt haben mögen.
Der bemerkenswerte Flug geht mit einer veritablen Starkwind-Landung in Schänis – bockiger als sonst im Föhn – zu Ende. Die Gewitterzellen über dem Toggenburg saugen die Luft mit 50 km/h durch die Linthebene ab. Entsprechend zackig geht die Demontage der Flieger heute vonstatten. So sind wir dann umso schneller bei einem kühlenden Notbier im Restaurant und reiben uns noch lange nach der Landung kollektiv die Verwunderung über die heutigen Segelflug-Bedingungen aus den Augen.
Link auf die Flugdaten.
Link auf das Foto-Album und die Wettervorhersagen.