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Nach Kollision mit offenen Beingurten aus Rettungsschirm gefallen

Ereignisse und Flugverlauf
Laut Zeugenangaben plante der Pilot der DG-300 einen Streckenflug vom Flugplatz Lemelerveld in den Niederlanden über Venlo weiter nach Deutschland in den Bereich von Borkenberge und zurück. Der Start im Windenstart erfolgte gegen 10:25 Uhr. Aus den Radardaten ging hervor, dass der Flugweg der DG-300 an Venlo vorbei bis in das Gebiet östlich des Flugplatzes Borkenberge führte. Dort wurde gewendet und zurück in Richtung Westen zum Flugplatz Borkenberge geflogen. Ein Zeuge gab gegenüber der BFU an, dass er zur Unfallzeit ebenfalls aus Richtung des Flugplatzes Borkenberge eine wachsende Cumuluswolke anflog, die auch von an-deren Segelflugzeugen angesteuert wurde. Nach Auswertung der Flugdaten wurde diese Wolke auch von den beiden an der Kollision beteiligten Piloten angesteuert. Der BFU lag auch ein Zeugenvideo vor, in dem dokumentiert war, dass ein Segelflugzeug im Flachtrudeln zu Boden stürzte. Der Zusammenstoß beider Segelflugzeuge war auf dem Video nicht aufgezeichnet.

Flugverlauf der letzten 5 Minuten
Gemäß den Radardaten befanden sich beide Segelflugzeuge gegen 13:38:00 Uhr südöstlich des Flugplatzes Borkenberge (Abb. 1). Die LS4-b begann gegen 13:38:30 Uhr 3 linke Kreisflüge, beendete diese in ca. 1 280 m Höhe und flog dann mit etwa einer Minute Abstand zu der DG-300 in westlicher Richtung weiter. Die DG 300 befand sich zu diesem Zeitpunkt etwa 150 m unterhalb und nach rechts versetzt zu der LS-b. Gegen 13:41:00 Uhr begann die DG-300 in 1 080 m Höhe ebenfalls mit einem linken Kreisflug mit geringem Höhengewinn, beendete diesen gegen 13:41:30 Uhr und flog dann einen Kurs von 310° in nordwestliche Richtung. Zu dieser Zeit passierte die LS4 b den Flugplatz Borkenberge in 1 150 m Höhe und änderte gegen 13:42:00 Uhr den Kurs auf 310°. Während des Vorfliegens überholte die LS4 b die ca. 80 m tiefer fliegende DG-300. Kurz vor der Kollision verringerte die DG-300 die Geschwindigkeit und begann im Geradeausflug zu steigen.

Gegen 13:42:30 Uhr kam es, ca. 2 km nordwestlich des Flugplatzes Borkenberge, in ca. 1 100 m über Grund, zur Kollision beider Segelflugzeuge. Die DG-300 stürzte zu Boden. Der Pilot der LS4-b verließ nach der Kollision das Luftfahrzeug mit dem Ret-tungsfallschirm. Der Rettungsfallschirm wurde mit geöffneten Beingurten etwa 140 m südöstlich der Leiche des Piloten der LS4-b auf einem Getreidefeld gefunden.
Beide Piloten erlitten tödliche Verletzungen. Die beiden Segelflugzeuge wurden beim Aufprall auf den Boden zerstört.

Funkverkehr
Keiner der betroffenen Piloten stand mit der Flugleitung Borkenberge über die Platz-frequenz in Funkkontakt. Laut Zeugenaussagen hatten beide Piloten keinen Sprechfunk-Kontakt miteinander. Es gab jedoch Gespräche auf anderen Frequenzen mit anderen Segelfliegern aus den jeweiligen Luftsportvereinen des Startflugplatzes.

Feststellungen an der DG-300
Der Pilot wurde im Cockpit angeschnallt aber tödlich verletzt aufgefunden. Der Kabinenbereich war zerstört. Die Cockpithaube befand sich ca. 250 m östlich des Wracks auf dem Dach eines landwirtschaftlichen Betriebes. Der Haubenverschluss war geschlossen. Der Haubenaufstellbeschlag der Kabinenhaube war auf der Seite des Rumpfes an den Befestigungsbolzen aufgebogen. Die rechte Tragfläche war abgebrochen und befand sich ca. 110 m südsüdöstlich der Aufschlagstelle des Hauptwracks in einem Waldstück. Rumpf und linke Tragfläche waren mehrfach gebrochen. Das Höhenleitwerk war ge-brochen. Berührungsspuren der Kollision wurden an der Rumpfunterseite, im Bereich des Fahrwerksschachts und des Cockpits, gefunden. Im Fahrwerksbereich wurden blaue und rote Farbantragungen gefunden, die der LS4-b zugeordnet werden konnten (Abb. 9). An der Unterseite der abgebrochenen, rechten Tragfläche befand sich eine Beschädigung, die mit Farbantragungen am Höhenleitwerk der LS4-b korrespondierte.

Feststellungen an der LS4-b
Die LS4-b befand sich in Rückenlage zwischen Bäumen auf dem Boden. Die Rumpfröhre war hinter dem Cockpit und vor dem Leitwerksträger gebrochen. Das Höhenleitwerk war gebrochen. Die rechte Tragfläche war am Holm gebrochen und vom Rumpf getrennt. Beide Tragflächen waren in der Holmbrücke miteinander verbunden. Der Haubenrahmen lag auf dem Rumpf auf. An der Aufschlagstelle wurden keine Ple-xiglasteile der Haube gefunden. Die Verbindungen der Ruderflächen und Steuer-Elemente waren intakt. Es wurden keine Hinweise auf Mängel in der Steuerung des Segelflugzeuges gefunden. Farbabschürfungen des blauen Typenschriftzuges an der linken Bordwand der LS4-b korrespondierten mit den Farbantragungen an der DG-300 im unteren Rumpfbereich (Abb. 9). Die roten Farbantragungen an der DG-300 korrespondierten mit Farbab-schürfungen der Haubenverriegelung der LS4-b. An der Vorderkante des rechten Höhenleitwerks der LS4-b befanden sich grüne Farb-Antragungen, die mit Schäden an der rechten Tragfläche der DG-300 übereinstimmten. An der linken Tragfläche befanden sich Farbantragungen des Höhenleitwerkes der DG-300

Medizinische und pathologische Angaben
Die Leichen der Piloten wurden obduziert. Als Todesursache wurde bei beiden ein Polytrauma festgestellt. Es lagen keine Hinweise auf vorbestandene physische oder psychische Beeinträchti-gungen der Piloten vor.

Überlebensaspekte
Der Pilot der LS4-b wurde ohne Fallschirm außerhalb des Wracks aufgefunden. Das Gurtzeug des Fallschirms wurde mit offenen Beingurten gefunden, d. h. es muss nicht verschlossen gewesen sein und konnte sich im freien Fall vom Körper lösen. Der auf-gefundene Rettungsfallschirm war vollständig vorhanden und zeigte keine Spuren ei-ner Auslösung. Dem Piloten der DG-300 gelang es nicht, den Haubennotabwurf durchzuführen und das Segelflugzeug mit dem Rettungsfallschirm zu verlassen.

Urinieren während des Fluges
Nach Zeugenaussagen soll der Pilot der LS4-b die Angewohnheit gehabt haben, wäh-rend des Streckensegelfluges die Beingurte des Rettungsfallschirms zu lösen, um in ein Behältnis bzw. einen entsprechenden Beutel zu urinieren. Um die Aussage zu verifizieren, ob dabei das Gurtschloss der Anschnallgurte geöffnet sein muss, um urinieren zu können, führte die BFU mit einer LS4-b Versuche durch. Dabei stellte sich heraus, dass ein Öffnen des Gurtschlosses nicht unbedingt nötig war, um die Hose zum Urinieren zu öffnen. Mit dem Thema Blasenmanagement im Segelflugzeug befassen sich einige Artikel in den Segelflugforen. Um eine Dehydrierung zu verhindern sollte der Pilot auf langen Streckenflügen ausreichend trinken. Das Problem mit der sich füllenden Blase und wann der beste Zeitraum zum Urinieren ist, wird im Artikel 3: „Pinkeln im Segelflugzeug – Die 6 Methoden“ beschrieben: Am besten wird im Segelflugzeug zu einem Zeit-punkt gepinkelt, an welchem du keine volle Konzentration zum Fliegen benötigst. Zum Beispiel beim Vorfliegen, bei einer Talquerung etc.

Notausstieg aus Segelflugzeugen
Das Büro Flugsicherheit des Deutschen Aeroclub e.V. (DAeC) beschäftigte sich mit dem Thema Notausstieg aus Segelflugzeugen. „Notausstieg (k)ein Problem? Kabel und Leitungen im Cockpit“ (Flugsicherheitsinfo 09/04) sowie einem Vorschlag zur Än-derung der Lufttüchtigkeitsforderungen für Segelflugzeuge und Motorsegler JAR-22 „Notausstieg aus Segelflugzeugen – Notabwurf der Kabinenhaube Arbeitspapier – Korrektur 11/06“. Darin wird auf ein Forschungsprojekt des Luftfahrtbundesamtes (LBA) aus Mai 1991 Bezug genommen: “Haubennotabwurf bei Segelflugzeugen“.

Der Zusammenstoß in der Luft trifft den Flugzeugführer meist völlig überraschend. Im ersten Augenblick herrschen ein Unglaube und ein Schock vor. Der Pilot benötigt einige Zeit, den Schock zu überwinden, die Situation zu erkennen und die Entscheidung zum Ausstieg zu treffen. Er unterliegt dabei der Versu-chung, sich der Situation zu ergeben. Nach der Entscheidung zum Notausstieg versucht der Flugzeugführer die Haube so schnell wie möglich abzuwerfen, ohne sich dabei den notwendigen Vorgang zum Haubennotabwurf für das ge-flogene Muster bewußt zu machen. Oft haben sich die Piloten auch vorher nicht mit dem Haubennotabwurfverfahren vertraut gemacht. Aufgrund der hohen Sinkgeschwindigkeit nach dem Unfall hat der Pilot jedoch meist, nur wenige Se-kunden zur Verfügung zum Abwerfen der Haube, zum Aussteigen und zum Zie-hen des Fallschirms. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass noch etwa 100 m Höhe zum Öffnen des Fallschirms und zum Abbremsen der Fallge-schwindigkeit nötig sind. Alles muss sehr schnell gehen. Jede gewonnene Se-kunde verbessert die Wahrscheinlichkeit für eine sichere Rettung.

Vor diesem Hintergrund war zunächst die Frage zu klären, in wieweit die Piloten mit den einzelnen Haubennotabwurfsystemen der von ihnen geflogenen Muster vertraut sind. Zur Ermittlung des allgemeinen Kenntnisstandes wurde ein Fra-gebogen den Piloten zur Beantwortung vorgelegt. Bei der Auswertung stellte sich heraus, daß 67% der Piloten den zu bedienenden Hebel je nach Muster nicht richtig nennen konnten! Die meisten Piloten haben auch eine ungenaue Vorstellung, wie sich im Notfall die Cockpithaube vom Flugzeug löst. Viele Per-sonen sind der Meinung, daß ihr Muster eine Mechanik besitzt, welche die Haube nach der Entriegelung an der Vorderseite anhebt und dass kein weiteres Zutun des Piloten erforderlich ist, die Haube abzuwerfen.

Unfälle mit Fallschirmen bei offenen Beingurten
Aus den Veröffentlichungen des Deutschen Gleitschirm- und Drachenflugverbands e. V. (DHV) geht hervor, dass es bei Unfällen, bei denen die Beingurte des Gurtzeuges nicht verschlossenen bzw. fehlerhaft geführt waren, zu mehreren tödlichen Stürzen kam. Versuche zeigten, dass ein Herausfallen aus dem Gurtzeug leicht möglich war.

Überlebbarkeit der Kollision

Pilot der LS4-b
Pilot und Rettungsfallschirm der LS4-b wurden außerhalb des Wracks gefunden. Die räumliche Trennung von Pilot, Rettungsfallschirm und Wrack des Segelflugzeuges deuten auf ein Verlassen des Cockpits kurz nach der Kollision hin. Der Pilot war mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nach dem Verlassen des Cockpits aus dem Gurtzeug gerutscht. Da der Auslösegriff des Fallschirms nicht betätigt wurde, muss sich dies unmittelbar nach dem Verlassen ereignet haben. Es konnte nicht geklärt werden, warum die Beingurte offen waren. Vermutlich hatte der Pilot sie während des Fluges geöffnet, um urinieren zu können. Da das Dreh-schloss der Anschnallgurte geöffnet war, geht die BFU davon aus, dass der Pilot selbstständig ausgestiegen ist.

Pilot der DG-300
Der Pilot der DG-300 wurde mit angelegtem Rettungsfallschirm im Wrack gefunden. Obwohl die Cockpithaube östlich des Wracks aufgefunden wurde, geht der Hersteller nicht davon aus, dass der Pilot den Haubennotabwurf bewusst durchführte, sondern die Haube sich infolge der Kollision selbstständig aus dem Rumpfbereich löste. Die genauen Gründe für das Nicht-Aussteigen ließen sich im Nachhinein nicht feststellen, allerdings könnte die Schocksituation oder eine mangelnde Bedienkenntnis des Hau-bennotabwurfs beitragend gewesen sein. Es ist ebenfalls nicht auszuschließen, dass der Pilot infolge der Kollision handlungsunfähig war.

Schlussfolgerungen
Die Kollision zwischen den beiden Segelflugzeugen ereignete sich, weil die beiden Piloten das jeweils andere Segelflugzeug nicht gesehen haben und somit kein Aus-weichmanöver einleiten konnten.

Beitragende Faktoren waren:

  • Nicht in Funktion befindliches Kollisionswarngerät der DG-300
  • Nicht vollständig verschlossenes Gurtzeuges des Rettungsfallschirms des LS4-b Piloten in Zusammenhang mit oder als Folge von vermuteter Ablenkung des Piloten beim Benutzen eines Urinals. Quelle/vollständiger Untersuchungsbericht: ‚BFU, Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung‚.