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Kollision knapp verhindert

Hergang
Das als HB-SDV eingetragene Motorflugzeug des Typs Diamond DA-40 war am 18. Dezember 2020 etwa zur Mittagszeit vom Flugplatz Lausanne (LSGL) gestartet. Der Pilot beabsichtigte, das Rhonetal im Raum des Nahkontrollbezirks (Terminal Control Area4 – TMA) Sion, der sich ostnordöstlich des Flugplatzes Sion (LSGS) im Bereich des Instrumentenanfluges auf die Piste 25 befindet, südwärts zu überfliegen und nahm dazu um 12:05:25 UTC Funkkontakt zum Fluginformationsdienst Genf auf. Vor der gefährlichen Annäherung bewegte sich das Motorflugzeug in gerader Linie und leicht steigend in südöstlicher Richtung. Zur selben Zeit befand sich das als 9H-ILB eingetragene Geschäftsreiseflugzeug, ein zweistrahliger Jet des Typs Bombardier CL-600-2B19 «Challenger 850», auf einem Instrumentenanflug auf den Flugplatz Sion. Die Flugbesatzung stand unter dem Funkrufkennzeichen «Vistajet 645» in Kontakt zum Kontrollturm des Flugplatzes Sion. Vor der gefährlichen Annäherung bewegte sich die 9H-ILB entsprechend dem Instrumentenanflugverfahren sinkend in südwestlicher Richtung und flog dabei in den Raum der TMA Sion ein, die zu dieser Zeit nicht aktiv war.

Der Kontrollturm Sion übermittelte der 9H-ILB eine Verkehrsinformation und informierte die Flugbesatzung über das nach VFR verkehrende Motorflugzeug, das sich in ihrer 1-Uhr-Position in einer Distanz von 7 NM und auf einer Höhe von 13’000 ft südwärts bewege («unknown VFR traffic, 1 o’clock position, 7 miles, 13 000 ft, proceeding southbound»). Des Weiteren kontaktierte er den Fluginformationsdienst Genf, der daraufhin eine Verkehrsinformation an die HB-SDV übermittelte. So wurde deren Pilot über den nach IFR anfliegenden Jet informiert, der sich in seiner 10-Uhr-Position in einer Distanz von 4 NM und 1400 ft über seiner Flughöhe befinde und in Richtung Sion absinke («traffic at 10 o’clock, 4 miles, it’s 1400 ft above your level, in descent IFR to Sion». Kurz darauf, um 12:22:58 UTC, gab das Kollisionswarnsystem des Typs TCAS der 9H-ILB einen Ausweichbefehl (Resolution Advisory – RA) nach oben aus. Die Besatzung der 9H-ILB leistete diesem Ausweichbefehl Folge und leitete einen Steigflug ein. Zeitgleich übermittelte der Pilot der HB-SDV über Sprechfunk, dass er die 9H-ILB in Sicht habe und daher etwas steigen werde («in sight, we climb a little bit»).

Die Luftfahrzeuge näherten sich nun, beide steigend, weiter einander an. Um 13:23:15 UTC übermittelte der Pilot der HB-SDV, dass er nun sinken müsse, weil die 9H-ILB auch steige («we have to descend because he is climbing»). Dabei betrug der Abstand zwischen den Luftfahrzeugen noch 100 ft vertikal und 1.1 NM horizontal. Im weiteren Verlauf nahm der vertikale Abstand wieder zu und erreichte 375 ft bei 0.7 NM und 900 ft bei 0.1 NM.

Angaben zum Luftraum
Der Flugplatz Sion verfügt über eine TMA der Luftraumklasse D (d.h. Einflugbewilligung erforderlich), der dem Schutz von nach IFR anfliegenden Luftfahrzeugen dient und temporär aktiviert werden kann. Im vorliegenden Fall war die TMA Sion nicht aktiv, sodass die gefährliche Annäherung der beiden Luftfahrzeuge in Luftraum der Klasse E (d.h. Einflugbewilligung nicht erforderlich) erfolgte. In der Schweiz verfügen einige zivile und militärische Flugplätze über temporäre TMA. In der Regel sind diese auf der Luftfahrtkarte mit dem Kürzel „HX“ bezeichnet und im VFR Manual als «TMA HX» aufgeführt. 5 TMA dieser Art können bei Bedarf kurzfristig über Sprechfunk aktiviert werden und müssen während IFR An- und Abflügen auch tatsächlich aktiviert sein. Im Unterschied dazu ist die TMA Sion auf der Luftfahrtkarte durch eine von dieser Regel abweichende Umrandung erkennbar und im VFR Manual als «TMA TEMPO» bezeichnet. Die TMA Sion ist neben der TMA Alpnach die einzige dieser Art in der Schweiz. Ihre Aktivierung erfolgt nicht kurzfristig über Sprechfunk, sondern nach vorgängiger Publikation mittels NOTAM6 und DABS7.

Das Verfahren zur Aktivierung der TMA Sion geht auf die ursprüngliche Nutzung des Flugplatzes Sion als Militärflugplatz zurück; militärische IFR Anflüge fanden vornehmlich zu festgelegten Betriebszeiten und unter der Woche statt. Die zivile Nutzung des Flugplatzes nahm in der Vergangenheit jedoch stetig zu; zivile IFR-Anflüge erfolgen vornehmlich kurzfristig und an Wochenenden. Zum Zeitpunkt des vorliegenden Zwischenfalls wurde der Flugplatz Sion als sogenannter Regionalflugplatz mit zivil/militärischer Mischnutzung betrieben. Seit Beginn des Jahres 2022 ist Sion ein rein ziviler Flugplatz und wird von der Luftwaffe nur noch als Ausweichflugplatz benutzt. Anpassungen der Luftraumstruktur an die veränderten Verhältnisse erfolgten bisher nicht.

Betriebliche Aspekte
Die gefährliche Annäherung ereignete sich in einem Luftraum der Klasse E, in dem sich die nach Sichtflugregeln betriebene HB-SDV auch ohne Funkkontakt hätte aufhalten können. Dank des Funkkontakts zum Fluginformationsdienst Genf konnte jedoch, obwohl nicht vorgeschrieben, eine Verkehrsinformation betreffend das Geschäfts-Reiseflugzeug übermittelt werden. Desgleichen erhielt auch die 9H-ILB eine Verkehrs-Information betreffend das Motorflugzeug vom Kontrollturm Sion. Beide Verkehrs-Informationen waren für die Flugbesatzungen geeignete Hilfestellungen, um das andere Luftfahrzeug visuell sichten und diesem bei Bedarf ausweichen zu können, was einer Kollisionsverhütung nach dem Prinzip «see and avoid» entspricht. Das Prinzip «see and avoid», das im Luftraum der Klasse E anzuwenden war, gelangte trotz der Verkehrsinformationen an seine Grenzen. Das Kollisionswarnsystem des Typs TCAS des Geschäftsreiseflugzeuges lieferte jedoch – dank des eingeschalteten Transponders der HB-SDV – eine zusätzliche Warnung vor der HB-SDV und gab einen Ausweichbefehl nach oben aus, dem die Flugbesatzung Folge leistete. Damit wurde bis zu dem Zeitpunkt, zu dem der horizontale Abstand zwischen den beiden Luftfahrzeugen auf annähernd null gesunken war, ein sicherer vertikaler Abstand gewonnen.

Luftraum
Die TMA Sion liess sich nicht kurzfristig, sondern nur nach vorgängiger Publikation eines NOTAM aktivieren, was für den ehemaligen militärischen Flugbetrieb ein passendes Verfahren darstellte. Heute führt dieses Verfahren dazu, dass ziviler IFR-Verkehr im Anflug auf Sion durch vielbenutzten Luftraum der Klasse E geführt werden muss. Das damit einhergehende Sicherheitsdefizit ist eingehend bekannt und veranlasste die SUST bereits zum Aussprechen mehrerer Sicherheitsempfehlungen.

Eine Aktivierung der TMA Sion bewirkt in einem solchen Fall, dass die Besatzung eines nach Sichtflug betriebenen Luftfahrzeuges wie der HB-SDV vor Einflug in die TMA mit dem Kontrollturm von Sion in Kontakt treten muss. Der Flugverkehrsleiter hat damit beispielsweise die Möglichkeit, einen Durchflug zu verzögern, wenn sich ein Luft-Fahrzeug wie die 9H-ILB auf einem Instrumentenanflug innerhalb der TMA befindet. Es ist deshalb naheliegend, dass das unflexible Verfahren zur Aktivierung der TMA Sion zur Entstehung der gefährlichen Annäherung beitrug. Zumindest die Flugsicherung hat die Häufigkeit gefährlicher Annäherungen im Luftraum der Klasse E um den Flugplatz Sion erkannt und dieses Gebiet als Hotspot identifiziert. Bis heute erfolgten keine Anpassungen an der Luftraumstruktur oder an den Benutzungsbedingungen für den Luftraum um den Flugplatz. Aus diesem Grund spricht die SUST eine entsprechende Sicherheitsempfehlung aus.

Befunde

  • Es liegen keine Anhaltspunkte für Einschränkungen technischer, meteorologischer oder menschlicher Art vor.
  • Die gefährliche Annäherung zwischen einem Geschäftsreiseflug auf einem Instrumenten-Anflug und einem Motorflugzeug, das nach Sichtflugregeln betrieben wurde, erfolgte innerhalb der Grenzen der TMA Sion.
  • Diese TMA war nicht aktiviert und konnte aufgrund von Verfahrensvorgaben auch nicht kurzfristig aktiviert werden.
  • Die gefährliche Annäherung erfolgte deshalb in Luftraum der Klasse E. In solchem Luftraum ist grundsätzlich mit VFR Verkehr zu rechnen, der weder für die Flugsicherung noch für Kollisionswarnsysteme erkennbar ist.
  • Beide Flugzeuge verfügten über eingeschaltete Transponder, standen in Funkkontakt mit verschiedenen Flugsicherungsstellen und erhielten von diesen je eine Verkehrsinformation.
  • Die Besatzung des Geschäftsreiseflugzeuges leistete einem Ausweichbefehl des TCAS Folge, was eine Kollision oder Fastkollision verhinderte.

Ursachen
Die gefährliche Annäherung ist darauf zurückzuführen, dass die beiden Flug-Besatzungen das jeweils andere Flugzeug zu spät visuell erkannten, um nach dem Prinzip «see and avoid» selbst für einen ausreichenden Abstand zu sorgen. Zur Entstehung der gefährlichen Annäherung trug bei, dass eine kurzfristige Aktivierung der TMA Sion aufgrund veralteter Verfahrensvorgaben nicht möglich war.

Sicherheitsempfehlung Nr. 585
Das Bundesamt für Zivilluftfahrt (BAZL) sollte zeitnah durch geeignete Massnahmen das Risiko gefährlicher Annäherungen im Raum der TMA Sion vermindern, das sich aus der Abwicklung von IFR Verkehr in Luftraum der Klasse E ergibt, beispielsweise durch eine permanente Aktivierung der aktuell bestehenden TMA per NOTAM («TMA TEMPO») oder durch die Einführung einer TMA, die bei Bedarf kurzfristig über Sprechfunk aktiviert werden kann («TMA HX»).

Sicherheitshinweis Nr. 52, Zielgruppe: Flugbesatzungen, die einen Instrumentenanflug nach Sion durchführen
Flugbesatzungen, die einen Instrumentenanflug nach Sion durchführen, sollen sich vorgängig mittels NOTAM und DABS über den Status der temporären TMA Sion informieren. Eine Aktivierung dieser temporären TMA ist anhand eines entsprechenden Notice to Airmen (NOTAM) und eines Eintrags im Daily Airspace Bulletin Switzerland (DABS) erkennbar. Umgekehrt ist bei Nichtvorhandensein dieser Informationen die temporäre TMA nicht aktiviert. In diesem Fall führt der Flugweg des Instrumenten-Anfluges durch Luftraum der Klasse E, dies bis zur Grenze der Kontrollzone (Control Zone – CTR) des Flugplatzes Sion rund 5 NM vor der Pistenschwelle der Piste 25. Im Luftraum der Klasse E ist jederzeit mit Sichtflugverkehr zu rechnen, der nicht in Kontakt mit der Platzverkehrsleitstelle (Aerodrome Control Tower – TWR) von Sion steht und der möglicherweise nicht über einen eingeschalteten Transponder verfügt. Es gilt das Prinzip «see and avoid» zur Kollisionsvermeidung.

Sicherheitshinweis Nr. 54, Zielgruppe: Flugbesatzungen, die einen Sichtflug innerhalb der temporären TMA durchführen
Die temporäre TMA Sion ist im Normalfall nicht aktiviert, was am Nichtvorhandensein eines entsprechenden Notice to Airmen (NOTAM) und Fehlen eines Eintrags im Daily Airspace Bulletin Switzerland (DABS) erkennbar ist. Instrumentenanflüge nach Sion verlaufen innerhalb der Grenzen dieser temporären TMA, weshalb Sichtflugverkehr hier mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen von IFR-Flugverkehr rechnen muss. Grundsätzlich gilt im Luftraum der Klasse E das Prinzip «see and avoid» zur Kollisions-Vermeidung. Um das Situationsbewusstsein aller Beteiligten zu erhöhen, ist es sinnvoll, auch bei nicht aktivierter TMA den Platzverkehrsleiter von Sion zu kontaktieren. Quelle/vollständiger Bericht: ‚SUST, Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle‚.