In Ameisenkniehöhe durchs Sauerland

Oder: „Sowas macht auch nur Dir Spaß!

Autor Martin Knops

Die Saison 2022 wird in die Annalen der Segelfliegerwelt eingehen. So gutes Wetter an so vielen Tagen hat es in Mitteleuropa wohl noch nie gegeben. Und doch war es mir nicht vergönnt, einen wirklich großen Flug zu machen. Eigentlich hätte es für drei Tausender reichen müssen. Aber irgendwie hatte ich dieses Jahr kein Händchen für den richtigen Einsatz meiner raren Jonkers. Stattdessen übte ich mich mehrfach im Fliegen bei minimalen Bedingungen. Wenn im Sauerland die Wolkenbasis nur 500m über Talgrund liegt, wenn man sich von Aussenlandefeld zu Aussenlandefeld hangelt, wenn das Steuergerät des Jets nicht mehr ausgeschaltet wird, weil man den Motor jeden Moment brauchen könnte – dann hört für viele der Spaß auf. Für mich nicht 😃. Als ich eines Abends am Flugplatz begeistert von einem solchen Flug erzählte, unterbrach mich August mit diesem Satz: „Martin: sowas macht auch nur Dir Spaß.“

Vielleicht kommt bei derartigen Flügen tatsächlich meine bislang unentdeckte masochistische Ader durch 😃. Das ist es aber nicht allein. Vielmehr besteht für mich ein besonderer Reiz darin, aus jedem Wetter das Beste rauszuholen. Wenn es an einem solchen Tag dann gelingt, ohne Motoreinsatz 200, 300, 400 oder gar 500 km zu fliegen, wenn man es schafft, nach Stunden im Tiefparterre doch noch ins Hammerwetter einzufliegen, wenn man mehrfach kurz vor der Aussenlandung noch den rettenden Bart findet, dem „Schicksal“ der Landung (oder des Motorzündens) knapp von der Schippe springt, dann setzen diese Erlebnisse (noch) mehr Endorphine frei als ein schneller Flug bei idealen Bedingungen.

Und natürlich schult das Fliegen unter diesen Bedingungen ungemein. Jetzt kommt es darauf an, beim Kreisen das Flugzeug handwerklich perfekt zu beherrschen. Jetzt zählt jede einzelne taktische Entscheidung und Fehler werden sofort mit dem vorzeitigen Ende des Fluges bestraft.

Hinzu kommt, dass auch Wettbewerbe oft an Schlechtwettertagen entschieden werden. Wer zu Hause nur bei bester Thermik ins Cockpit steigt, wer an schwierigen Tagen jammert, anstatt mit positiver Einstellung den Widrigkeiten zu trotzen, der hat von vornherein keine Chance.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Natürlich ist es in Ordnung, bei zweifelhaften Wetterlagen nicht weit weg zu fliegen. Insbesondere ohne Motor. Die Wahrscheinlichkeit einer Außenlandung steigt unweigerlich, und so sehr ich dafür werbe, eine Aussenlandung als etwas Normales anzusehen: provozieren sollte man diese nicht.

Ich erinnere mich immer noch lebhaft a den zweiten Wertungstag in Oerlinghausen 1996 (ja, so alt bin ich schon!). Das Wetter erlaubte es gerade, das Feld der Teilnehmer in die Luft zu bekommen und in der Luft zu halten. Auf dem Zettel stand eine Minimalaufgabe mit 150 km Länge. Im ersten „Aufwind“ auf Strecke entschieden etliche Piloten, umzudrehen und nach Hause zu fliegen! Sie waren fest davon überzeugt, dass es an diesem Tag eh keine Wertung gäbe, weil es niemandem gelingen würde, ausreichend weit zu fliegen. Auch verspürten sie wenig Lust auf den sie erwartenden schlammigen Acker einschließlich mühsamer Bergung und aufwändiger Säuberung des Flugzeuges. Ich dagegen flog weiter und kämpfe mich Schritt für Schritt, Aufwindchen für Aufwindchen weiter bis zur letzten Wende Höxter-Flugplatz.

Dieser liegt auf einem Bergrücken westlich der Weser. Der Himmel war fast komplett zugezogen, aber in das Wesertal strahlte seit Minuten die Sonne ein. Ich flog einige Kilometer über die Wende hinaus, verlängerte also „unnötig“ die Strecke, tauchte in das Wesertal ein und fand am sonnenbeschienenen Hang zuverlässiges Steigen. Langsam, aber beständig ging es nach oben bis an die Wolkenuntergrenze. Von Westen zog mittlerweile die angekündigte Warmfront auf. Vermutlich würde ich die frisch erkurbelte Höhe nur noch Abgleiten und beizeiten auf einem Acker ausrollen. Doch da entdecke ich etwa 10 km vor mir eine Wolkenlücke. Durch diese hindurch beleuchten die letzten Sonnenstrahlen des Tages ein goldgelbes Weizenfeld. Als ich näherkomme, erkenne ich Bussarde, die über dem Feld kreisen. Ich erreiche sie in ca. 150 m über Grund.

Mittlerweile hat sich die Wolkenlücke wieder geschlossen, der Lichtschalter wurde wieder ausgeknipst, aber das Variometer schlägt aus: 1 m/s Steigen. Ich kann mein Glück kaum fassen. Eine halbe Stunde später lande ich im frontalen Nieselregen in Oerlinghausen. Alle anderen sind in dem Moment entweder auf Rückholtour oder sitzen, so sie den Tag frühzeitig aufgegeben haben, bei Kaffee und Kuchen – und reiben sich verwundert die Augen: Wo kommt der denn her? Das gibt es doch gar nicht!

Dies soll keine Heldengeschichte sein, sondern ein Beispiel dafür, wie wichtig eine positive Einstellung im Wettbewerb ist. Alles Kopfsache. Und es soll ein Beispiel dafür sein, dass nicht immer die größten Flüge diejenigen sind, an die man sich noch nach Jahrzehnten erinnert. Es sind vielmehr die besonderen Flüge. Das kann dann auch mal ein 150 km Dreieck sein.

Zurück ins Jahr 2022 und zu dem Flug, von dem ich August vorschwärmte.

Als ich am Morgen des 11. Juni meinen Flieger lüfte, ernte ich fragende Blicke: Was hast Du denn heute vor? Der Himmel ist zu dieser Zeit mit 7/8 Strato-Cumulus bedeckt, der Wetterbericht für Rheinland, Eifel, Sauerland – sprich für alle Landstriche um uns herum – mies. Das gute Wetter wartete weit im Süden und sollte NRW erst am Folgetag beglücken. Aber ich hatte nur heute Zeit, jammern hilft nicht.

Mental hatte ich mich genau auf das eingestellt, was nun folgte: Mit 800 m Basis ins Bergische vortasten, weiter mit 1000 m Basis durchs Sauerland, die ganze Zeit also maximal 600 m über Grund. Erste Aufgabe: oben bleiben. Suche nach dem nächsten Anschluss, dabei einigermaßen Kurs Richtung Osten halten.

Biggesee – mit Weitwinkel aufgenommen und doch recht nah

Zum ersten Mal richtig tief bin ich am Biggesee, immerhin in Reichweite des Flugplatzes Attendorn. Geduldig versuche ich, den halben Meter Steigen zu optimieren, fliege nach 5 min mit 150 zusätzlichen Metern weiter, nur, um mich wenig später erneut in 200 m über Grund wiederzufinden. Jetzt geht es aber endlich eine ganze Etage höher, auf über 700, im nächsten Bart sogar auf 900 m AGL, gefühlt geradewegs in den Orbit! Die neu gewonnene Höhe nutzte ich zum Vorflug bis Allendorf / Eder. Bis hierhin war es anstrengend, aber auch schön. Ich war gut geflogen und stolz, es bis soweit geschafft zu haben. Ab jetzt sollte auf dem nun anstehenden Weg nach Südwesten alles besser werden. Das Wetter baute deutlich auf und ich erwartete einen Spaziergang ohne weitere Tiefpunkte. So der Plan…

Über dem Westerwald wurde es inhomogen mit Ausbreitungen und Abschattungen und mir gelang es nicht wie gewünscht, „richtig Gas zu geben“. Ich flog nicht mehr gut. Während ich nördlich Montabaur in mäßigem Steigen kreiste, sinnierte ich unschlüssig über den weiteren Flugweg. Sollte es nach Süden zwischen Frankfurt und Hahn hindurch gehen? Dort lockten in großer Entfernung richtig schöne Wolken. Oder entlang der Mosel? In dieser Richtung war es breitgelaufen, aber etwas Steigen würde sich auf dem Weg finden, ohne wieder ins Tiefparterre abtauchen zu müssen – dachte ich. Oder doch auf kürzestem Weg westlich um Köln rum?

Eigentlich ist Entscheidungsfreude eine meiner Stärken, aber in dieser Situation habe ich komplett versagt. Meine Wahl fiel zunächst – wenig überraschend – auf die „schönen Wolken“ jenseits des blauen Lochs im Süden. Erst wollte ich aber an die Basis steigen, was nicht gelang. Mein Bart fing an zu schwächeln und so stieg ich aus, hatte aber nicht den Mumm, das blaue Loch zu überspringen und flog stattdessen nach Westen Richtung Rhein, wo unter den breitgelaufenen absterbenden Cumulanten nichts ging. Auf der verzweifelten Suche nach Thermik baute ich noch einen großen, letztlich sinnlosen Schlenker ein, verlor weitere Höhe und musste schließlich in den Rheingraben abtauchen.

Rheinschleife bei Düsseldorf-Urdenbach

Das war richtig schlecht! Immerhin fand ich auf der westlichen Talseite aus Ameisenkniehöhe und schon fast im Hangflug wieder Anschluss. Den Koblenzer Fernsehturm sieht man auch nicht alle Tage Auge in Auge, aber auf die entsprechenden Fotos hätte ich gerne verzichtet!

Koblenz Fernsehturm – aus ungewohnter Perspektive

Nach diesem unnötigen Absitzer ging es immerhin im Fahrstuhl auf schwindelerregende 1800 m und wenig später weiter Richtung Süden dem Hammerwetter entgegen. Trotz guter Optik rannte es aber selbst hier nicht für mich. Ich traf einfach die Aufwinde nicht und probierte viel zu lange rum, anstatt weiter vorzufliegen. Einfach schlecht!

Vor zwei Stunden noch machte es mir nichts aus, in 200 m Höhe rumzukrebsen und jetzt hatte ich nicht die Traute, aus immerhin noch 700 m AGL die nächste Wolke ins Visier zu nehmen. Wie kann das sein? – Ein Stück weit ist das sogar rational zu erklären: Mit der Basishöhe steigt auch der Abstand der Bärte. Wenn es hoch geht, sollte man daher eher nicht richtig tief herunterfliegen. Verfehlt man den angepeilten Aufwind, dann erreicht man den nächsten möglicherweise nicht mehr. Es fehlt der berühmte Plan B. Meine Faustregel: „freiwillig“ nur bis zur halben Konvektionshöhe runterfliegen.

Ausnahmen bestätigen aber auch hier die Regel. Und so eine Ausnahme wäre in diesem Moment eindeutig angesagt gewesen: Wenn man aus 700 m AGL sieben lange Minuten in schwachem Steigen rummacht, erst dann entnervt aufgibt, weiterfliegt und auf dem Weg zum erlösenden 2,5 m/s Bart nur 150 Höhenmeter verliert, dann ist das fast schon peinlich, dann hat man 7 Minuten verschenkt! Im Wettbewerb darf das nicht passieren!

Es lief also nicht wirklich. Wie sollte das erst auf dem Rückflug im wieder schlechteren Wetter werden? – Einfacher auf keinen Fall!

Ehe ich mich versah, steckte ich über dem Westerwald erneut in Schwierigkeiten. Diesmal allerdings unverschuldet. Diffuse Wolkenoptik, schlechte Sicht, kaum Sonneneinstrahlung. Welcome back!

Jetzt war aber auch mein alter Kampfgeist wieder geweckt, und nachdem der Anschluss an die Wolkenbasis einmal geschafft war, wurde es ein fast schon entspannter Heimflug ohne weitere Probleme.

Immerhin 540 km standen am Ende auf der Uhr. 540 km mit Höhen und Tiefen und rekordverdächtigen 72 km/h Durchschnittsgeschwindigkeit. Langsam wie nie, wetterbedingt, aber auch wegen eigener Fehler. Lehrreich war‘s, spannend war‘s, schön war‘s!

Wie gut, dass ich am Morgen den Flieger aufgebaut hatte – trotz oder gerade wegen des miesen Wetterberichts! Flugdetails.

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