Die perfekte Welle

Von Gerhard Herbst.

Völlig unerwartet traf am Freitagabend die WhatsApp-Nachricht von Max ein, dass am Sonntag hinter dem Thüringer Wald Wellenfliegen möglich wäre.

Sofort habe ich zugesagt und mich

gefreut, dass dieser Tag, den ich so gar nicht auf dem Plan hatte, nicht fliegerisch ungenutzt an mir vorbeiziehen würde.
Ein kleines Häuflein unentwegter Piloten (Max, Franz und Kai) machte sich am Sonntag früh, mit dem Auto und angehängtem Segelflieger, auf den Weg nach Alkersleben, um sich an der Thüringer Welle zu versuchen.

Unbeschreiblich – aber die obere Wolke sagt mir, es geht noch höher.

Ich selbst hatte mich dafür entschieden, in Bamberg zu starten (09.17 UTC) und mit dem Wind nach Thüringen zu fliegen. Bereits über Coburg (ca. 50 km vor Alkersleben) klappte ich in ca. 2’000 m MSL den Motor ein und flog im Segelflug bis Thüringen. Ich musste sparsam mit meinem begrenzten Sprit umgehen, da ich nicht wusste, ob ich ihn für den Heimflug am Nachmittag, gegen den Wind, noch brauchen würde.
Auf dem Kamm des Thüringer Waldes sah ich im Flarm bereits die ersten Flugzeuge, die sich schon 1’000 m über mir in ca. 15 km Entfernung in der Welle tummelten.

Leider waren die alle ausserhalb meiner Reichweite, also musste ich mir meine „eigene Welle“ suchen. Hinter Ilmenau waren die ersten Rotoren (Verwirbelungen der Welle am Boden) durch kleine Wolkenfetzen gezeichnet. So konnte ich in 500 m über Grund zielgenau den ersten Aufwind (2 m/sec) ansteuern. Nach ca. 300 m Steigen im Rotor wurden die Steigwerte schwächer. Also flog ich gegen den Wind und kam sofort ins laminare Steigen. Mit gemächlichen 0,5 bis 1m/sec Steigen begann dann der langsame Aufstieg bis auf 3’900 m. Dann war kein weiteres Steigen in dieser Welle möglich.

Flugvorbereitung, aktueller Wetterbericht und Satellitenbilder im Flug geben Informationen, wo es hoch geht. Stopp! Eins habe ich vergessen: Glück! Im Butterfly: Max ist im ersten Versuch nicht weggekommen und sitzt wieder am Boden in Alkersleben. Die KEBY, die ca. 20 min vor mir in Bamberg gestartet ist, hat noch einen Höhenvorsprung von 1’215 m.

Ca. weitere 2’000 m über mir, also in 6’000 m, waren aber weitere Lenticularis-Wolken. Diese zeigten mir an, dass die Welle noch höher hinauf gehen würde. Also war wieder ein schneller Vorflug Richtung Südwest angesagt (TAS nicht GS, inzwischen mehr als 100 km/h Gegenwind), um wieder in die nächste Aufwindzone zu gelangen.
Unerwartet schnell kam diese, in der ich durchschnittlich mit 1,5 m/sec weitersteigen konnte. Für alle, die noch keine Wellenerfahrung haben: Im

Thermikflug „knarzt“ der Flieger, die Tragflächen biegen sich durch und „arbeiten“. Im laminaren Steigen in der Welle, ist es im Cockpit absolut still.

Die Tragflächen liegen absolut regungslos in der Luft. Mit nur kleinen Seitenruder­ausschlägen lässt sich der Flieger durch die Kurven manövrieren. Man hört die Steuergestänge in ihren Führungen laufen, das lenkbare Spornrad quietscht: Ich muss wieder mal einen Tropfen Öl in die Lagerung geben.

Kein Steigen mehr. Ich muss gegen den Wind vorfliegen, um wieder in eine Steigzone zu kommen.

Nun ist es so, dass ab 3’000m Höhe (MSL) der obere Luftraum Charlie (für die „grosse Fliegerei“ = Verkehrsfliegerei) anfängt. Da Segelflugzeuge diese in ihrem „Geradeausflug“ stören würden, wird zu diesem Zwecke extra über dem Thüringer Wald ein Wellenfluggebiet für Segelflieger aktiviert und die Verkehrsfliegerei wird aussenrum geleitet. Dieses «Wellen-Fenster» reicht im ersten Schritt bis FL160 (Flugfläche 160 = ca. 5’000m) und dann noch weiter bis FL220 (ca. 6’600m). Das Wellenfenster, in dem man fliegen darf, ist ca. 45 km lang und 25 km breit. Es darf nicht ohne Genehmigung verlassen werden. Ausflug ohne Genehmigung ist eine Luftraumverletzung und wird mit bis zu 10.000 Euro bestraft. Inzwischen wurde auf meine Anforderung auch der „obere Luftraum Thüringer Wald“ bis FL220 freigegeben. In 6’500 m befinde ich mich an der oberen Grenze des freigegebenen Luftraums. Der Blick nach draussen ist unbeschreiblich. Zwischen zwei Lentis, über und unter mir, fliege ich diese unstrukturierten Wolken an der Vorderkante entlang ab. Da die Wind­geschwindigkeit

auf über 125 km/h gestiegen ist, ist mein Vorhaltewinkel im Langsamflug bei über 60 Grad. Das Steigen ist auf unter 1m/sec gesunken. Eine Anfrage nach einer weiteren Erhöhung des Wellenfensters wird negativ beschieden. Ich wechsle daraufhin auf die Frequenz von FIS Langen, wissend, dass FIS für den Luftraum bis FL100 zuständig ist. Selbst nach einem «Squawk Ident» kann der Lotse meine Position nicht ausmachen. Erst als ich meine Flughöhe mit FL 220 wiederhole, geht dem Lotsen ein Licht auf und er schickt mich auf die Funk-Frequenz von München Radar. Auf meine Anfrage auf eine (Einzel-)Freigabe bis FL 250 (ca. 7300m) wird mir die Freigabe „erstmal“ bis FL230 erteilt. Den Grund für die eingeschränkte Höhenfreigabe könne ich „vorbeifliegen sehen“. Tatsächlich kreuzt eine Boeing 747-400 meinen Flugweg mit nur wenigen hundert Metern Überhöhung. Nachdem die 747, die völlig unerwartet hinter der oberen Lenticularis Wolke auftaucht, mich im ersten Moment noch überrascht hat, fühle ich „grenzenlose Freiheit“. Dieses Gefühl nimmt jedoch ein jähes Ende …

Der Jumbo kreuzt meinen Flugweg nur wenige hundert Meter über mir.
Schade, dass die GoPro nur ein Weitwinkelobjektiv hat.

Kleine Handlung mit fatalen Folgen!

Der Jumbo hat mich überrascht. Schnell habe ich meine GoPro genommen und versucht, den Augenblick im Bild fest zu halten. Leider kommt durch das Weitwinkelobjektiv der GoPro die Nähe zur 747 nicht zur Geltung. In regelmässigen Abständen überprüfe ich die Funktionsfähigkeit meiner Sauerstoffanlage, den Schlauch und den Sitz der Nasenkanüle.

Ich vergegenwärtige mir nochmal, in welche Tasche ich die Ersatzbatterien für das Sauerstoffgerät gepackt habe. Ab einer Höhe von 12.000ft darf/kann man nicht mehr ohne Sauerstoffanlage fliegen. Man muss sich aber bewusst machen, dass diese Grenze willkürlich, zu „Kriegszeiten“ festgelegt wurde und mit der menschlichen Physiologie nichts zu tun hat. Manch einer bekommt schon in weit geringerer Höhe Herzklopfen, während andere den Mount Everest ohne Sauerstoff besteigen. Jeder Mensch reagiert anders. Auf dem langen und langsamen Weg in der Welle nach oben habe ich viel Zeit, nachzudenken. Mir ist bewusst, dass ich mich in dieser

Höhe besonderen Gefahren aussetze. Der Sauerstoff­partialdruck ist in dieser Höhe so gering, dass bei einem Ausfall meines Stoffgerätes, nur ca. 3-5 Min. bis zur Bewusstlosigkeit und damit nur diese Selbstrettungszeit bleibt. D.h. In dieser Zeit kann ich Massnahmen ergreifen, die dazu geeignet sind, auch bei Bewusstlosigkeit, den sicheren Abstieg in tiefere, sauerstoffreichere Zonen durchzuführen. Unwillkürlich fällt mir eine Erzählung meines ersten Motorfluglehrers vor mehr als 20 Jahren ein. Dieser war mit 19 Jahren Anfang der 60er Jahre einer der ersten Jetpiloten bei der Bundeswehr und ist dort die F86 geflogen: „Im Training haben wir den Sauerstoffausfall im Flug simuliert: In der Selbstrettungszeit musste man das Triebwerk auf Idle bringen, den Knüppel an den Bauch ziehen und krampfhaft gezogen halten. Der Flieger würde aus einem Mischmasch von Looping und Spiralsturz ohne Überlastung nach unten stürzen … und dann blieb noch die Hoffnung, dass man wieder zu Bewusstsein kam, bevor man auf dem Boden aufschlug.“

Alles noch im grünen Bereich. Ich geniesse die Aussicht.

Na Klasse, warum fällt mir das gerade jetzt ein und was nützt mir das? Dennoch gehe ich in Gedanken den Fall durch: Sauerstoffausfall! Aus Erfahrung im Kunstflug weiss ich, dass man die ASK21 mit voll gezogenen Klappen auf die Nase stellen kann (ca. 50 m/sec Sinken) und sie erreicht nicht die Ve (maximale Geschwindigkeit, bevor der Flieger überlastet wird und ggf. in der Luft auseinander bricht).

Ich habe mir schon mehrmals die Sinnhaftigkeit der Verriegelung der Klappen in voll ausgefahrener Stellung in meinem Flugzeug zu erklären versucht. Plötzlich ist mir eine, vielleicht lebensrettende Anwendung eingefallen, die einem irgendwann einmal von Nutzen sein könnte!

Ich habe das Wellenfenster hinter (unter) mir gelassen und bin jetzt in FL 225 (ca. 6’800 Meter Höhe).

Meine Freigabe von München Radar reicht bis FL 230 (über 7000m). Der Jumbo ist durch und ich erwarte eine weitere Höhenfreigabe. Ich steige noch immer mit 0,5 m/sec. Ich mache mir bereits einen Plan für den nächsten Vorflug gegen den Wind, um auch die letzte Wolke über mir zu erklimmen. Die Aussentemperatur beträgt -25 Grad. Mir fröstelt plötzlich. Ich ziehe mir ein Tuch über die Nase, um mein Gesicht vor der Kälte zu schützen. Ohne weiter nachzudenken, mache ich die Lüftungsklappe zu, um die kalte Luft nicht mehr ins Cockpit zu lassen… ein fataler Fehler!

Die Sonne streut ihr Licht in den Eiskristallen, was die Sicht nach aussen nicht verbessert.

Augenblicklich beschlägt meine Brille durch den Atem, der sofort an den Brillengläsern fest gefriert. Ich nehme die Brille ab, um sie abzuwischen, bemerke aber, dass sie mit Eiskristallen belegt ist und ich damit nicht mehr sehen kann. Ich stecke die Brille zum Auftauen in meine Jacke und suche meine Ersatzbrille. Die Mitnahme einer Ersatzbrille ist für Brillenträger Pflicht. Erst vor wenigen Wochen wurde ich vom Luftamt nach einem Flug kontrolliert und der nette Herr wollte auch meine Ersatzbrille sehen. Damals entlockte mir die Ersatzbrillenpflicht nicht mehr als ein verständnisloses Lächeln. Heute bin ich schlauer. Als ich die Ersatzbrille endlich aufsetzen konnte, erkenne ich, dass inzwischen fast die gesamte Cockpitscheibe mit Eiskristallen beschlagen ist. Nur die vordersten 50cm der Haube waren noch frei. Schnell öffne ich wieder die Lüftung, um den Eisansatz zu stoppen. Das gelingt mir auch, aber die Sicht nach aussen ist beinahe auf «Null» gesunken. Nur noch ein kleines Guckloch nach vorn ist mir geblieben. Intuitiv blende ich mir den künstlichen Horizont ins Display des LX9000 ein. Ich halte es einfach zu diesem Zeitpunkt für eine gute Idee. Und schon wirds dunkel im Cockpit. Sofort realisiere ich, ich bin in die Wolke eingeflogen. Durch den Trouble mit der Brille und dem Eisansatz habe ich meine Aufmerksamkeit vom „Flugzeugfliegen“ ablenken lassen. Ich leite eine sanfte Linkskurve auf Südwestkurs ein. Nach weniger als einer Minute wird es wieder hell im Cockpit. Nach vorne kann ich wieder den blaugrauen Himmel erkennen.

Ich denke gerade, dass alles wieder gut ist, als ich bemerke, dass mein Herz rast und mir ganz heiss wird. Ich schiebe diese Reaktion auf die Aufregung und glaube, dass ich etwas überreagiere und sich das gleich wieder beruhigen wird. Stattdessen ertönt der Alarm des Sauerstoffgerätes: Sauerstoffausfall!!! Das Gerät erkennt nicht die Ursache, sondern nur, dass bereits 45 Sekunden kein Sauerstoff mehr entnommen wurde. „Klappen ziehen! Knüppel an den Bauch! …durchfährt es mich. Aber bevor ich den „Ausführungsbefehl“ gebe, bremse ich mich ein und beruhige mich erst mal. Eine schnelle Untersuchung des Sauerstoffsystems zeigt mir, dass ich die Nasenkanüle herausgezogen habe, als ich mir das Tuch über das Gesicht zog. Ich repositioniere die Nasenkanüle, schalte das EDS-Sauerstoffgerät in den Notfallmodus und verharre erst mal still in meinem engen Cockpit. Mit tiefen Atemzügen versuche ich, möglichst viel Sauerstoff aufzunehmen. Bereits nach wenigen Sekunden bemerke ich eine Besserung der Herzfrequenz und ein Abflauen der Hitzewallung. Die Stille im Cockpit wird durch eine Stimme aus dem Funkgerät jäh unterbrochen. München Radar fragt nach, ob ich die Freigabe bis FL 230 noch benötige? Ich stutze kurz, habe ich doch eine Freigabe bis FL 250 erwartet. Ich schaue auf den Höhenmesser. Wegen der Troubles bin ich aus der Steigzone gefallen und habe jetzt 1,5m Sinken auf dem Vario. Ich bin noch in FL 215. Die Anfrage von München Radar sehe ich als einen Wink meines Schutzengels, der mir sagt: „Lass es für heute gut sein!“

Bamberg wurde in 4’000m überflogen. Am VOR ERL habe ich gewendet. Von einem zuerst geplanten Überflug vom Nürnberger Flughafen habe ich auf Bitten von M Radar abgesehen. Eine Freigabe wäre in der TMZ nicht erforderlich gewesen.

Ich bestätige, dass ich die FL 230 nicht mehr benötige und frage nach einem „descent direct to Bamberg“. Der Lotse vertröstet mich („standby, I ca.ll you back“). Nach ca.. einer Minute meldet sich der Lotse wieder und gibt mir eine neue Frequenz.

Ich melde mich auf der neuen Frequenz („München Radar, DKEBU“) und bekomme augenblicklich die Freigabe, das Wellenfenster nach Süden zu verlassen („DKEBU, I have your details, leaving Wavearea direct to Bamberg approved“). Ich wundere mich, dass ich keinen Squawk bekomme, sondern auf 7000 bleibe. Aber das mag wohl das Ausrufezeichen für den Lotsen auf seinem Radarschirm sein, dass er unter all den Verkehrsmaschinen einen Segelflieger zu betreuen hat.

Ich gleite im „Blindflug“ langsam mit ca. 120 km/h Richtung Bamberg. Da über mir keine Wolken mehr sind, lösen sich, auf der sonnenzugewandten Seite der Scheibe, die Eiskristalle auf.

Die dunkel lackierte Instrumentenpilz-Abdeckung tut ihr übriges. Ich habe wieder freie Sicht nach draussen. Die Höhe nimmt nur langsam ab. Über Bamberg habe ich immer noch 4’000 Meter Höhe. Eine Höhe, die man im „normalen“ Flugbetrieb, mit dem Segelflugzeug, nicht erreicht. In 3’000 Meter melde ich mich bei München Radar ab und bedanke mich für ihren Service.

Die letzten Höhenmeter vernichte ich, indem ich noch eine grosse Schleife über meinem Heimatort fliege. Die Landung um 14.40 UTC in Bamberg war nur noch die letzte Pflichtaufgabe, die diesen Flug zu einem guten Ende gebracht hat.

Es sind gerade diese Flüge, die einem unvergesslich in die Erinnerung eingebrannt werden und die das Segelfliegen so spannend machen. Kein Flug ist wie der andere. Es gibt immer neue Herausforderungen.

Ich liebe es!

Der Flieger steht wieder vor seinem Stall. 30 min später ist er eingepackt.

PS: Meine Freunde vom AC Bamberg (Max, Franz und Kay) haben sich ebenfalls in der Welle getummelt. Franz war ohne Sauerstoff unterwegs und war deshalb in seinen Möglichkeiten begrenzt. Kay war auf 5000m. Max hatte einen Absitzer und brauchte einen zweiten F-Schlepp. Aber er wäre nicht Max, wenn er sich nicht auch an diesem Tag, noch kurz vor Sonnenuntergang, auf FL 200 gekämpft hätte. Bei Dunkelheit, im Scheinwerferlicht der Autos haben sie ihre Flieger abgebaut und sind spät in der Nacht heimgekommen. Klasse!

Wetterbericht vom Vortag: In der Mitte das Wellenfenster, der gelbe Bereich sagt Steigen in der Welle voraus, grün heisst sinken. Oben die Kontrollzone von Erfurt.
  • Die perfekte Welle – Flugbericht vom 15.11.2020
  • Flugzeug: ASH 31 Mi, 21m Spannweite
  • Pilot: Gerhard Herbst
  • Flugzeit: 5 Stunden 45 Minuten
  • Motorlaufzeit: 20 min
  • Startort: Bamberg (EDQA) um 09.17 UTC
  • Landung: Bamberg (EDQA) um 14.40 UTC
  • Ort: Wellenfenster Thüringer Wald
  • max. erreichte Höhe: 6820 Meter, FL 225
  • OLC-Flugdaten

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