„Die Wasserkuppe ist in Fulda so bekannt wie Schwartenmagen und der Dom“, sie sei „das Woodstock des Segelflugs“ und „das Wacken der Flugpioniere“, ein Ort, an dem deutsche und europäische Fluggeschichte geschrieben worden sei. Sie sei aber auch ein NS-Täterort. Deshalb müsse man die Geschichte der Wasserkuppe in ihren verschiedenen Schichtungen freilegen. So begrüßte Dr. Alexander Jehn, der Direktor der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung (HLZ) die Gäste bei der Vorstellung des Buchs „Volk, flieg du wieder“ von Pauline Bietau. Um dieses Kompliment gleich vorneweg zu schicken: Das Buch ist didaktisch exzellent aufgebaut, mit knackig-kurzen Kapiteln, verdichteten Zusammenfassungen, Kurz-Biografien und ganzseitig abgedruckten Zitaten. Mit anderen Worten – das Buch ist bei aller historischen Genauigkeit und Tiefe extrem zugänglich.
Der Titel des Buchs ist der Gedenktafel am Fliegerdenkmal entnommen: „Wir toten Flieger bleiben Sieger durch uns allein. Volk, flieg du wieder, und du wirst Sieger durch dich allein.“ Ein Satz, der heute unerträglich ist, genauso seine revisionistische Haltung, die in den 1920-er Jahren weit verbreitet war. Warum er dennoch für dieses Buch gewählt wurde, erschließt sich mir nicht, zumal ja auch Wulf Bleys von nationalsozialistischem Gedankengut durchtränkte Geschichte der deutschen Luftfahrt so hieß. Und nein, da hilft es wenig, den Titel in Anführungszeichen zu setzen.
Ort technologischer Faszination
Auf der Wasserkuppe wird zwar seit 1911 geflogen, ihr „Impact“ allerdings stammt weniger aus diesen frühen Jahren als aus der Zeit des Dritten Reichs. Das hängt mit der durchorchestrierten Instrumentalisierung der Flug- und Technikbegeisterung zusammen, mit der das NS-Regime darauf abzielte, junge Menschen für die Fliegerei zu gewinnen. Sie tat das mit Schriften, Büchern, Plakaten, Wettbewerben und Filmen. Der Aspekt Verführung und Verführbarkeit spielt deshalb auch eine ganz besondere Rolle in diesem Buch.
Pauline Bietau wies daraufhin, dass Technik auch heute große Anziehungskraft besitzt. Zwar ist das Fliegen im 21. Jahrhundert selbstverständlich geworden, neue Technologien wie KI, Gentechnik oder Biotechnologie sind es aber nicht. All dies seien Technologien, die „das Potential haben, unser Zusammenleben zu revolutionieren. Sie eröffnen damit auch – wie das Fliegen in den 1920er und 1930er Jahren – Karrieremöglichkeiten für talentierte Forscher und Entwickler“, heißt es in der Einleitung des Buchs. So ist die Geschichte der Wasserkuppe auch die Geschichte der Unwägbarkeiten neuer Technologien, deren Auswirkungen gerade am Anfang nicht einschätzbar sind. Und die für eine offene, demokratische Gesellschaft Fluch und Segen zugleich sein können.
Ort ideologischen Missbrauchs
Die Geschichte der Wasserkuppe kann man auch als die des ideologischen Missbrauchs erzählen. Der Indoktrination entging hier niemand, das zeigt das Leistungsbuch eines auf der Wasserkuppe fliegerisch ausgebildeten Jungen. Neben fliegerischen Kenntnissen und sportlichen Normen war eine weltanschauliche Prüfung vorgeschrieben, in der vom Leben des Führers bis zu Rasse-Ideologie, NS-Parteiprogramm und deutschem Liedgut abgefragt wurde, was ein „Pimpf“ oder „Hitlerjunge“ zu wissen hatte. Nur dann gab’s die begehrten Abzeichen. In der in martialischer Überwältigungsarchitektur erbauten Ehrenhalle der Flieger wird ein Kenotaph für Otto Lilienthal (1848 bis 1896) gezeigt, darauf dessen vorgeblich letzte Worte „Opfer müssen gebracht werden“. Dahinter liegt das Löschwasserbecken, das auch als Schwimmbad genutzt werden konnte und für junge Menschen damals viel Anziehungskraft hatte. Hier sieht man den Mix aus Sport, Drill, Wettkampf und ideologischer Zurichtung besonders schön.
Ort der Mahnung und Erinnerung
Von 1945 bis 1998 überwachten von der Wasserkuppe aus vor allem amerikanische Luftwaffeneinheiten den Luftraum des Warschauer Pakts. Zeitweilig taten hier bis zu 800 Soldaten Dienst und trugen damit maßgeblich zur Sicherung des Friedens in Europa bei. Übrigens wurden auch die „Rosinenbomber“ während der Berlinblockade von der Wasserkuppe aus geleitet! Seit Ende des Kalten Kriegs hat die Wasserkuppe keine militärische Bedeutung mehr, heute steht ihre touristische Erschließung im Fokus. Die aber soll das historische Erbe weder verschleiern noch vergessen machen. Diese Epoche ist nicht Gegenstand des Buchs, verdiente aber eine eigenständige Darstellung.
Der ‚Berg der Flieger‘ ist ein gutes Beispiel für die Ambiguitätstoleranz, die wir in zunehmend als komplexer empfundenen Zeiten brauchen. Die Geschichte der Wasserkuppe ist keine von fliegenden Helden und Technik-Superfreaks, sondern eine von begeisterungsfähigen, aber eben auch verführbaren Menschen. Das macht die Ambivalenz dieses Ortes und der Menschen, die ihn geprägt haben, aus. Das auszuhalten ist eine gute Schulung in Demokratieverständnis. Quelle: ‚Jutta Hamberger in den Osthessen-News‚.